Ein Appell für nicht-hierarchische, selbstbestimmte, gesellschaftliche und ökonomische Alternativen
Interview von kuda.org mit Oliver Ressler über die Ausstellung „Alternative Economics, Alternative Societies“
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kuda.org: Es gibt eine Vielzahl von Argumenten und Kritikpunkten über die kapitalistische Ökonomie im Allgemeinen und ihre Einflüsse auf die gesellschaftliche Realität (und „Absorption der gesellschaftlichen Imagination“), auf die Politiken und das Konzept der „multikulturellen liberalen Demokratie“. Welche Stellung nimmst du ein, wenn du Kapitalismus in Bezug auf das Thema der Installation „Alternative Economics, Alternative Societies“ diskutierst und kritisierst?
Oliver Ressler: Nun, der Kapitalismus dominiert und bestimmt vollständig die Bedingungen, unter denen Menschen heutzutage leben, was für die Mehrheit der Menschen auf der Welt Bedingungen der Armut und Ausbeutung sind. Ich glaube, dass es im Kapitalismus keinen „normalen“, ausgewogenen Zustand gibt. Der Kapitalismus basiert auf permanenter Expansion, neuen Märkten wie Gentechnik, Patenten für Genen, der Privatisierung des Wassers oder aller sozialen Dienstleistungen, die bis vor kurzem vom Staat getragen wurden. Politiker, Unternehmen und Medienkonzerne benutzen das Konstrukt „Globalisierung“, um diese Veränderungen als notwendig, natürlich und unvermeidlich darzustellen, und nicht als eine effiziente langfristige Strategie der Neuverteilung von Reichtum zugunsten des Kapitals, um die es sich handelt. Weil Kapitalismus ohne Expansion nicht möglich zu sein scheint, stimme ich jenen Kritikern nicht zu, die für eine Reformierung des Kapitalismus eintreten, vor allem für eine Neuregulierung der Märkte. Und selbst wenn eine Neuregulierung wirklich vom Wirtschaftlichen her irgendwie funktionieren würde auf globaler Ebene, wäre es keine Struktur, für die ich kämpfen würde. Wir leben bereits so lange in diesen extremen hierarchischen Strukturen des Kapitalismus, es wird schon langweilig und an der Zeit, über Möglichkeiten gesellschaftlicher und ökonomischer Alternativen nachzudenken, die weniger hierarchisch und selbstbestimmt sind.
kuda.org: Wir kam es dazu, dass du Alternativen zum Kapitalismus innerhalb deiner künstlerischen Arbeit fokussiert und die Installation „Alternative Economics, Alternative Societies“ realisiert hast?
Oliver Ressler: In den späten 1990er Jahren habe ich ein groß angelegtes Projekt über Ökonomie realisiert, eine Ausstellung, die als Analyse und Kritik der einflussreichsten Protagonisten der ökonomischen Globalisierung, den transnationalen Konzernen, angelegt war. Ich habe mehrere Wochen auf ihren Webseiten recherchiert, habe die Geschäftsberichte gelesen und ihre Strategien verstehen gelernt, wie sie ökonomische Globalisierung und die Deregulierung der Märkte als natürlichen und für jedermann absolut positiven Prozess darstellen. Ein halbes Jahr nach der ersten Präsentation dieses Projektes „The Global 500“, rückte 1999 in Seattle die so genannte Antiglobalisierungsbewegung in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Ich war sehr beeindruckt von der Dynamik und der nicht-hierarchischen Organisationsform und realisierte in den kommenden Jahren zwei Videos, in denen ich diese Widerstandsbewegung genauer fokussierte. Seit 2003 verbrachte ich meine meiste Zeit und Energie mit dem fortlaufenden Ausstellungsprojekt „Alternative Economics, Alternative Societies“, das nicht nur die gegenwärtigen Bedingungen analysiert und kritisiert, sondern einen Schritt weiter geht, indem es gesellschaftliche und ökonomische Alternativen genauer betrachtet.
kuda.org: Die Ausstellung handelt von den Ideen, Versuchen und möglichen Modellen alternativer Ökonomien und alternativer gesellschaftlicher Organisation. In welchem Maße sind diese Ideen und Modelle eine funktionierende Alternative zum Kapitalismus und inwieweit eine Utopie?
Oliver Ressler: Alle der 14 Konzepte und Modelle (Stand: Jänner 2006), zu denen ich Interviews geführt habe, haben eine Zurückweisung des kapitalistischen Herrschaftssystems gemeinsam. Ob einige der Konzepte als wissenschaftliche ökonomische Modelle betrachtet werden und andere als utopische ist eine interessante Frage. Welche Aspekte machen ein Modell zu einem wissenschaftlichen und ein anders zu einem utopischen? Ich würde behaupten, dass diese Kategorien fließend sind. Marx und Engels’s Werk war eindeutig utopisch, als es geschrieben wurde, aber wurde Wirklichkeit nach einigen Jahrzehnten, als die kommunistischen Führer versuchten ihre ökonomischen Theorien auf das wirkliche Leben anzuwenden. Heute wird der Begriff der Utopie häufig verwendet, um bestimmte Vorstellungen des Wandels abzuwerten. Die zentrale Idee hinter dem Projekt „Alternative Economics, Alternative Societies“ ist, verschiedene Modelle und Konzepte für Alternativen vorzustellen, den Leuten, die sich dafür interessieren, Ideen zu geben, um herauszufinden, wie eine zukünftige Gesellschaft strukturiert sein und aussehen könnte. Die Ideen in der Ausstellung sollten als Denkanstöße dienen, als Grundlage für Diskussionen, die heute so nötig sind, solange es keine klaren Strategien für Alternativen gibt. Aber es muss klar sein, dass eine wünschenswerte Gesellschaft von den Menschen selber realisiert und geschaffen werden sollte, die in ihr leben. Ein Modell, das jeden Aspekt dieser zukünftigen Gesellschaft vorschreibt und bestimmt, kann nicht zu einer idealen Gesellschaft führen. Darum fokussiert das Projekt nicht nur ein alternatives Konzept, sondern eine ganze Reihe.
kuda.org: In welchem Verhältnis stehen diese alternativen Konzepte zu den extrem anarchistischen Widerstandsstrategien gegen den Kapitalismus, die meistens Dekonstruktion und Abschaffung als effektivstes Mittel vorantreiben, im Sinne von „zerstören, was uns zerstört“?
Oliver Ressler: Einige der Konzepte und Modelle in „Alternative Economics, Alternative Societies“ zeigen auch Übergangsstrategien, wie man sich hin zu einer alternativen Gesellschaft bewegt. Die Interviewpartner sind sich dessen natürlich bewusst, dass es sehr schwierig sein wird, eine neue Gesellschaft in einem größeren Umfang zu erreichen, ohne kraftvolle Kämpfe von unten. Zieht man in Betracht, dass diese Eliten, die heute die Macht haben, notwendigerweise ihre ganze Macht, Einfluss und Wohlstand verlieren und das natürlich verteidigen würden, ist es unmöglich, sich einen Wandel des Systems vorzustellen, der ohne jegliche Gewalt stattfinden würde. Aber Gewalt ist auch in die Strukturen des Kapitalismus eingelassen und wird jeden Tag reproduziert, daher kann man sie nicht vermeiden. Alle AutorInnen haben unterschiedliche, ausgearbeitete Vorstellungen davon, wie die kapitalistischen Strukturen ersetzt werden könnten. Auch das zeitgenössische anarchistische Modell, das im Projekt vorgestellt wird, die „anarchistische Konsensdemokratie“ von Ralf Burnicki, ist eine detaillierte Beschreibung einer egalitären Gesellschaft. Daher kann ich diese einfache radikale Haltung, auf die du zu verweisen scheinst, im Sinne von den Kapitalismus zerschlagen, aber keine alternativen gesellschaftlichen Strukturen in Betracht zu ziehen, nicht sehr ernst nehmen.
kuda.org: In mehreren der unterschiedlichen Interviews über gesellschaftliche Konzepte lassen sich solche Appelle finden, die für Egalitarismus, Solidarität, Diversität und Selbstorganisation eintreten. Gibt es Beispiele für Initiativen auf kleiner Ebene, die funktioniert haben und die Bildung größerer Gemeinschaften anregten, die auf diesen Werten basieren?
Oliver Ressler: Als ein Beispiel für eine größere Gemeinschaft, die verschiedene Formen des Selbstverwaltens und von Selbstorganisation ausprobiert, könnten die Zapatistas in Chiapas genannt werden, die vor elf Jahren gegen den Willen und den Druck des mexikanisches Staates eine Autonomie durchgesetzt haben. Die zapatistischen Gemeinden organisieren und verwalten sich selbst von unten. Sie haben die so genannte Versammlung der guten Regierung eingeführt als eine Art direktdemokratisches, selbstverwaltendes Netzwerk. Die Zapatistas organisieren ihre eigenen Schulen, Radiosender und medizinische Versorgung, sie haben kollektiven Besitz, ihre eigene lokale Ökonomie – natürlich auf einem sehr niedrigen Niveau, da Chiapas eine extrem arme ländliche Gegend ist. Daher sollten wir ihre ökonomische und gesellschaftliche Situation nicht glorifizieren, aber dennoch anerkennen, was sie realisiert haben. Zumindest zu einem gewissen Grad, glaube ich, haben sie es geschafft, nicht ein System der Herrschaft durch ein anderes zu ersetzen, sondern mit Systemen von Herrschaft als Norm zu brechen.
kuda.org: In einem der Videos gibt es einen interessanten Gedanken: „Der Kapitalismus existiert nicht, weil wir ihn im 19. Jahrhundert oder im 18. Jahrhundert geschaffen haben... der Kapitalismus existiert heute nur, weil wir ihn heute geschaffen haben“. Wie manifestiert sich der Kapitalismus in der heutigen Gesellschaft? Was sind seine „geographischen Prägungen“, welche Formen kann er in den am fortschrittlichsten entwickelten Ländern annehmen, sowie in den politischen und ökonomischen Peripherien wie Serbien?
Oliver Ressler: Die Auswirkungen des Kapitalismus sind überall in der Welt sichtbar, aber sie nehmen in den unterschiedlichen Teilen der Welt verschiedene Formen an. Ich glaube Serbien oder das ehemalige Jugoslawien sind ein gutes Beispiel dafür, wie verschuldete Staaten in die ökonomische Globalisierung gezwungen werden. Dieser Transformationsprozess wird durch Strukturanpassungsprogramme organisiert, die die verschuldeten Staaten umsetzen müssen. Dies deregulieren und liberalisieren die nationalen Märkte, öffnen sie für große transnationale Konzerne, was viele der kleineren lokalen Betriebe nach einer Weile zerstört. Die Strukturanpassungsprogramme zwingen die Staaten, ihre sozialen Sicherungssysteme abzubauen, Angestellte in der staatlichen Wirtschaft zu entlassen; Maßnahmen, die zu Verarmung weiter Teile der Bevölkerung führen, was so sichtbar in Serbien und in anderen Teilen der Welt ist. Der Grund, warum ich dieses Interview mit John Holloway geführt haben, den du in deiner Frage zitiert hast, liegt in seinen außerordentlich anregenden Überlegungen, wie Revolution heute gedacht werden kann. Holloway behauptet, dass die Geschichte zeigt, dass die Veränderung der Gesellschaft durch den Staat gescheitert ist, aus dem Grunde, dass der Staat selbst bereits eine spezifische Form gesellschaftlicher Beziehungen ist, die aus der Entwicklung des Kapitalismus hervorgeht. Daher spricht er darüber, wie man die Welt verändern könnte, ohne die Staatsmacht zu übernehmen, beschreibt Revolution eher als eine Frage, denn als eine Antwort, als einen Prozess, der die Leute in eine Bewegung von Selbstbestimmung mit einbezieht. Viele seiner Ideen nehmen Bezug auf die mexikanischen Zapatistas, die mich auch ein Stück weit beeinflusst haben, als ich die konzeptuelle Struktur für die Installation „Alternative Economics, Alternative Societies“ entwarf, als einen nichthierarchisch gegliederten Pool von Videos. „Fragend gehen wir voran“ ist ein zentrales Motto der Zapatistas. Den BesucherInnen der Ausstellung wird nicht gesagt, mit welchen Videos sie mit dem Betrachten in der Ausstellung beginnen sollten. Die BesucherInnen müssen ihren eigenen Weg finden, indem sie den einige Meter langen Bodenbeschriftungen aus Zitaten folgen, die eine Art Orientierung bereithalten und sie zu den entsprechenden Videos führen. Auf diese Weise wählen die BesucherInnen die Videos entsprechend ihrer eigenen Interessen aus, was ein sehr wichtiger Aspekt der Installation ist. Denn ich glaube, es sollte auch in der Gesellschaft der Fall sein, dass Menschen die Möglichkeit haben, die Strukturen zu wählen, die ja beeinflussen, wie sie leben und arbeiten.
kuda.org: In einem Interview hast du gesagt, dass du immer politisch aktiv und an politischen Themen interessiert gewesen bist, aber dass du deine Projekte als Künstler realisierst. Du hast auch erwähnt, dass das, was Kunst für dich so interessant macht, die Tatsache ist, dass „viele Kunstinstitutionen immer noch Orte sind, wo es möglich ist, Themen aus Perspektiven anzusprechen, die nicht in den Diskussionen der großen Medien berücksichtigt werden“. Viele Kunstinstitutionen sind auch Teil des kapitalistisch regulierten Kunstmarktes. Marina Grzinic sagt, dass hinter der Natürlichkeit der Kunstwerke „ein ganzes System von (theoretischen, kritischen) Investitionen und (nicht nur und ausschließlich) Geld“ steht. Wie verhältst du dich als Künstler, der letztlich aktiv in solch einem System ist, und dennoch mit dessen grundlegenden Problemen beschäftigt ist?
Oliver Ressler: Ich stimme Marinas Analyse völlig zu. Die Frage ist, was man tut, wenn man einmal verstanden hat, dass es kein „außerhalb“ des Kapitalismus gibt. Für mich ist es keine Option, die künstlerische Praxis aufzugeben und das künstlerische Feld zu verlassen, das sehr oft ein Raum ist, in dem tief greifende Debatten stattfinden. Für mich persönlich ist die entscheidende Frage, ob es immer noch möglich ist, einige positive Wirkungen durch Aktivitäten zu entfachen, die aus dem künstlerischen Feld hervorgehen. Aus meiner Erfahrung heraus würde ich nicht zögern, diese Frage mit „ja“ zu beantworten. Im Falle von „Alternative Economics, Alternative Societies“ ist die Ausstellung ein Ort für einen gesellschaftlichen Prozess des Befragens, und ich sehe meine Rolle als Künstler darin, solch einen Prozess zu organisieren und zu initiieren. Im Format einer Kunstausstellung versuche ich Modi zu finden, die Information und Wissen zugänglich machen, die sich sehr davon unterscheiden, etwa ein Buch zu lesen oder einen Film anzusehen.
kuda.org: Du verwendest verschiedene Arten von Medien, um den Inhalt zu analysieren und die Botschaft zu vermitteln. Video nimmt unter ihnen eine besondere Stellung ein, sind viele deiner Arbeiten doch im Videoformat realisiert. Welcher Stellenwert kommt dem Internet und den neuen Medien bei der Behandlung deiner Themen zu? Müssen wir noch immer auf den Prozess der „Demokratisierung“ dieser Medien warten, so wie wir die Demokratisierung des Mediums Video in den 60ern und 70ern miterlebt haben? Ist der Wille, den zivilen Ungehorsams in einen „elektronischen zivilen Ungehorsam“ zu verwandeln, ein Mythos, eine Utopie?
Oliver Ressler: Seit Mitte der 1990er Jahre habe ich Video als Bestandteil von Installationen verwendet und seit 2000 dann Videos, die unabhängig von Ausstellungsräumen gezeigt werden können. Daher ist Video wirklich gewissermaßen ein dominantes Medium innerhalb meiner künstlerischen Praxis geworden. Aber ich verwende auch andere Medien wie Posters, Großflächenplakate und Leuchtboxen für öffentliche Innenstadträume, oder ich produziere grafische Inserts für Printmedien oder Magazine. Daher ist meine Arbeit nicht primär auf ein bestimmtes Medium beschränkt, sondern entwickelt sich eher entlang spezifischer Themen, die ich behandle und für die ich versuche Formate und Strategien zu finden, um mit ihnen ein Publikum zu erreichen. Und ähnlich der unterschiedlichen Produktionsmittel für die Kunst sehe ich auch eine Vielzahl wichtiger unterschiedlicher Widerstandspraxen, die ich nicht gegeneinander ausspielen möchte. Die internationale Antiglobalisierungsbewegung hat gezeigt, dass Handlungen realer Körper in den Straßen unter bestimmten Umständen immer noch Sinn machen und positive Auswirkungen haben können, wie die vorzeitige Beendigung der WTO-Konferenz 1999 in Seattle gezeigt hat, die wenigstens bis zu einem gewissen Grad durch die Zehntausenden von Demonstranten verursacht wurde, die die Zusammenkünfte der WTO-Delegierten in Seattle blockiert haben. Andererseits können wir Beispiele dafür finden, dass auch elektronischer ziviler Ungehorsam ebenso öffentliche Aufmerksamkeit und Bewusstsein hervorbringen kann, wie die Online-Demonstrationen gegen Lufthansa. Da das Kapital danach trachtet, neu entwickelte Räume wie das Internet zu kommerzialisieren, ist es äußerst wichtig, diese Räume für Ungehorsam zu nutzen und für unsere demokratischen Rechte auf freie Meinungsäußerung auch in diesen Räumen zu kämpfen und dort zu demonstrieren.
Die Fragen stellte kuda.org im Mai 2005.
Das Interview wurde in der englischen Originalfassung in “Alternative Economics, Alternative Societies”, kuda.org (Hg.), Revolver – Archiv für aktuelle Kunst, 2005 veröffentlicht.
Deutsche Übersetzung für: „Kritische Gesellschaften“, Badischer Kunstverein (Hg.), Verlag für Moderne Kunst Nürnberg, 2006